DER DIENSTAG VOR DEM PASSAHFEST; DER TAG

nach Maria Valtorta

Sie sind auf dem Weg in die Stadt. Es ist wieder die kleine Nebenstraße, die sie auch am Morgen zuvor genommen haben. Es scheint, als wolle Jesus nicht von wartenden Menschen umgeben sein, bevor er im Tempel angekommen ist, den man bald erreicht, wenn man die Stadt durch das Herdentor nahe dem Probatica-Teich betritt. Aber heute warten schon viele der zweiundsiebzig Jünger auf der anderen Seite des Kedron, vor der Brücke. Und kaum sehen sie ihn in seinem purpurroten Gewand zwischen den grüngrauen Ölbäumen kommen, gehen sie ihm entgegen.

Sie vereinigen sich mit der Gruppe der Apostel und gehen dann zusammen zur Stadt weiter. Petrus, der den Hang vor ihnen hinunterschaut und achtgibt, da er ständig den Verdacht hat, es könnte jemand in böser Absicht erscheinen, sieht zwischen dem frischen Grün ganz unten einen Busch welker, schlaffer Blätter, der über dem Wasser des Kedron hängt.

Die eingerollten, sterbenden, stellenweise wie rostfleckigen Blätter sehen aus, als wären sie von Feuer versengt. Ab und zu löst der Wind ein Blatt und weht es ins Wasser des Baches.

«Aber das ist ja der Feigenbaum von gestern! Der Feigenbaum, den du verflucht hast!» ruft Petrus, zeigt mit der Hand auf den dürren Baum und wendet den Kopf, um mit dem Meister zu reden.

Alle eilen herbei, außer Jesus, der in seinem üblichen Tempo weitergeht.

Die Apostel erzählen den Jüngern die Vorgeschichte dessen, was sie sehen, und alle zusammen machen sie ihre Bemerkungen und schauen Jesus verblüfft an. Sie haben Tausende von Wundern an Menschen und Elementen gesehen. Aber dieses berührt sie mehr als alle anderen.

Jesus, der sie eingeholt hat, lächelt, als er die erstaunten und furchtsamen Gesichter bemerkt und sagt: «Nun? Wundert ihr euch so sehr darüber, dass auf mein Wort hin ein Feigenbaum vertrocknet ist? Habt ihr mich nicht die Toten auferwecken, die Aussätzigen heilen, die Blinden sehend machen, dass Brot vermehren, den Sturm beruhigen und das Feuer löschen sehen? Und ihr wundert euch, dass ein Feigenbaum vertrocknet?»

«Es ist nicht wegen des Feigenbaumes. Es ist nur, weil er gestern voller Leben war, als du ihn verflucht hast, und nun ist er verdorrt. Schau, er ist brüchig wie trockenes Stroh. Seine Zweige haben kein Mark mehr. Schau, sie werden zu Staub», und Bartholomäus zerreibt die Zweige zwischen den Fingern, die er mit Leichtigkeit abgebrochen hat.

«Sie haben kein Mark mehr. Du hast es gesagt. Und wenn kein Mark mehr da ist, dann bedeutet das den Tod, sei es nun bei einem Gewächs, einer Nation oder einer Religion; denn dann gibt es nur noch harte Rinde und unnütze Blätter: Härte und scheinheilige Äußerlichkeit. Das weiche innere Mark voller Lebenskraft gleicht der Heiligkeit, der Geistigkeit; die harte Rinde und das nutzlose Blattwerk ist die Menschheit ohne geistiges Leben und Gerechtigkeit. Wehe den Religionen, die weltlich werden, weil der Geist ihrer Priester und ihrer Gläubigen nicht mehr lebt. Wehe den Nationen, deren Häupter nur kalte, hochtönende Schwätzer sind ohne fruchtbare Ideen! Wehe den Menschen, denen das geistige Leben fehlt!»

«Wenn du dies den Großen von Israel sagen würdest, wärest du nicht klug, obgleich deine Worte der Wahrheit entsprechen. Laß dich nicht dadurch täuschen, dass sie dich bis jetzt haben reden lassen. Du selbst sagst ja, dass dies nicht eine Bekehrung der Herzen, sondern Berechnung ist. Also solltest auch du den Wert und die Folgen deiner Worte bedenken, denn es gibt eine Weisheit der Welt neben der Weisheit des Geistes. Und wir müssen sie zu unserem Vorteil gebrauchen, da wir noch auf der Welt und nicht im Reich des Himmels sind», sagt Iskariot zwar ohne Schärfe, aber in belehrendem Ton.

«Der wahrhaft Weise ist, wer die Dinge sieht, ohne dass die Schatten der eigenen Gefühle und der Widerschein der Berechnung sie verändern. Ich werde immer die Wahrheit sagen über das, was ich sehe.»

«Aber dieser Feigenbaum ist doch tot, weil du ihn verflucht hast... Oder ist es ein... Fall von... ein Zeichen... ich weiß es nicht?» fragt Philippus.

«Es ist all das, was du sagst. Aber was ich getan habe, könnt auch ihr tun, wenn ihr zum vollkommenen Glauben gelangt. Glaubt an den allerhöchsten Herrn. Wenn ihr diesen Glauben habt, wahrlich, dass sage ich euch, könnt ihr dies und noch mehr tun. Wahrlich, ich sage euch, wenn einer vollkommen vertraut in die Kraft des Gebetes und in die Güte des Herrn, kann er zu diesem Berg sagen: „Hebe dich weg und stürze dich ins Meer“ ' und wenn er, während er dies sagt, in seinem Herzen nicht zweifelt, sondern glaubt, dass was er gebietet möglich ist, so wird es geschehen.»

«Dann hält man uns für Zauberer, und wir werden gesteinigt, wie es den Zauberern ergeht. Es wäre ein gar törichtes Wunder und zu unserem Schaden!» sagt Iskariot und schüttelt den Kopf.

«Du bist töricht, weil du das Gleichnis nicht verstehst!» entgegnet ihm der andere Judas.

Jesus spricht nicht zu Judas, sondern zu allen: «Ich sage euch, und es ist eine alte Lehre, die ich in dieser Stunde wiederhole: Was immer ihr im Gebet erbittet, glaubt, dass ihr es erhalten werdet, und ihr werdet es erhalten. Wenn ihr aber, bevor ihr betet, etwas gegen jemanden habt, so verzeiht zuerst und schließt Frieden, damit ihr den Vater zum Freund habt, der im Himmel ist und euch vieles, so vieles verzeiht und euch von Morgen bis Abend, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nur Gutes tut.»

Sie betreten den Tempel. Die Soldaten der Antonia beobachten sie, wie sie vorübergehen.

Sie gehen und beten den Herrn an und kehren dann in den Hof zurück, in dem die Rabbis lehren.

Noch bevor die Leute herbeieilen, um sich um Jesus zu scharen, nähern sich ihm Sopherim, Lehrer Israels und Herodianer und sagen, nachdem sie ihn begrüßt haben, mit verlogener Ehrerbietung: «Meister, wir wissen, dass du weise und wahrhaftig bist, dass du die Wege Gottes lehrst und nach nichts und niemandem fragst, außer nach Wahrheit und Gerechtigkeit; dass dich das Urteil der anderen über dich wenig kümmert und du nur darauf bedacht bist, die Menschen zum Guten zu führen. Sage uns also: Ist es erlaubt, dem Caesar eine Steuer zu zahlen oder nicht? Was meinst du?»

Jesus sieht sie mit einem seiner Blicke von durchdringender, feierlicher Schärfe an und antwortet: «Was versucht ihr mich, ihr Heuchler? Ihr wißt doch, dass man mich mit scheinheiligen Ehren nicht täuschen kann! Doch zeigt mir ein Geldstück, eine Steuermünze.»

Sie zeigen ihm eine Münze.

Er betrachtet sie von beiden Seiten, legt sie auf die linke flache Hand, zeigt mit dem Zeigefinger der Rechten darauf und sagt: «Wessen Bild ist das? Was sagt die Aufschrift?»

«Es ist das Bild des Caesar, und die Aufschrift ist sein Name: Cajus Tiberius Caesar, der Name des derzeitigen Kaisers von Rom.»

«Dann gebt also dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.» Und er wendet ihnen den Rücken zu, nachdem er die Münze zurückgegeben hat.

Er hört einen um den anderen der vielen Pilger an, die ihn um Rat bitten, tröstet, spricht los und heilt.

So vergehen mehrere Stunden.

Er verläßt den Tempel, um vielleicht außerhalb des Tores die Mahlzeit einzunehmen, die ihm die Diener des Lazarus in dessen Auftrag bringen.

Am Nachmittag kehrt er in den Tempel zurück. Er ist unermüdlich. Gnaden entströmen seinen Händen, die er den Kranken auflegt, und Weisheit fließt von seinen Lippen in den Ratschlägen, die er den vielen erteilt, die sich ihm nähern. Es scheint, als wolle er alle trösten und heilen, bevor ihm dies nicht mehr möglich ist.

Es ist schon beinahe Abend, und die müden Apostel sitzen auf dem Boden unter dem Säulengang und sind verwundert über dieses ununterbrochene Kommen und Gehen der Menge in den Höfen des Tempels so kurz vor dem Osterfest, als sich dem Unermüdlichen reiche Männer nähern. Den prunkvollen Gewändern nach zu schließen, müssen es wohl Reiche sein.

Matthäus, der nur mit einem Auge schlummert, steht auf und weckt die anderen. Er sagt: «Sadduzäer gehen zum Meister. Wir wollen ihn nicht allein lassen, damit sie ihn nicht wieder beleidigen oder versuchen, ihm zu schaden und ihn zu verhöhnen.»

Alle stehen sofort auf, gehen zum Meister und umringen ihn. Ich glaube zu verstehen, dass es Schwierigkeiten gegeben hat beim Verlassen des Tempels oder bei der Rückkehr um die sechste Stunde.

Die Sadduzäer, die Jesus durch übertriebene Verbeugungen ehren, sagen zu ihm: «Meister, du hast den Herodianern so klug geantwortet, dass in uns das Verlangen nach einem Strahl deines Lichtes geweckt wurde. Höre. Moses hat gesagt: „Wenn jemand kinderlos stirbt, so soll sein Bruder die Witwe heiraten und dem Bruder Nachkommenschaft sichern.“ Nun waren bei uns sieben Brüder. Der erste nahm eine Jungfrau zur Frau und starb, ohne Kinder zu haben, und so hinterließ er seine Frau seinem Bruder. Auch der zweite Bruder starb, ohne Kinder zu hinterlassen, und ebenso der dritte, der die Witwe seiner beiden Vorgänger geheiratet hatte, und so weiter bis zum siebten Bruder. Zuletzt, nachdem die Frau die sieben Brüder hintereinander geheiratet hatte, starb auch sie selbst. Sage uns nun: Bei der Auferstehung der Leiber – wenn es wirklich wahr ist, dass die Menschen auferstehen, dass unsere Seele uns überlebt und sich am Jüngsten Tag wieder mit dem Leib vereinigt und so die Lebenden wiederherstellt – welchem von den sieben Brüdern wird dann die Frau angehören, da sie ja auf Erden allen sieben angehört hat?»

«Ihr irrt. Ihr versteht weder die Schrift noch die Macht Gottes. Ganz anders als in diesem wird es im anderen Leben sein. Im ewigen Reich wird es keine Bedürfnisse des Fleisches geben, wie in diesem Leben. Denn wahrlich, nach dem letzten Gericht wird das Fleisch auferstehen, sich mit der unsterblichen Seele vereinigen und wieder ein Ganzes bilden; es wird leben, und besser leben als ich und ihr heute, aber es wird nicht mehr den Gesetzen, und vor allem nicht mehr den Reizen und Mißbräuchen unterworfen sein, die jetzt noch gelten. Bei der Auferstehung werden Männer und Frauen nicht mehr heiraten und nicht mehr geheiratet werden, sondern sie werden sein wie die Engel im Himmel, die nicht heiraten und nicht geheiratet werden und doch in vollkommener Liebe leben, der göttlichen und geistigen Liebe. Und was die Auferstehung der Toten betrifft: Habt ihr nicht gelesen, wie Gott zu Moses aus dem Dornbusch gesprochen hat? Was hat der Allerhöchste damals gesagt? „Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs.“ Er sagte nicht: „Ich war...“ um damit zu verstehen zu geben, dass Abraham, Isaak und Jakob gewesen waren, aber nicht mehr waren. Er sagte: „Ich bin.“ Denn Abraham, Isaak und Jakob sind. Unsterblich. Wie der unsterbliche Teil aller Menschen, solange die Jahrhunderte andauern, und dann auch mit dem für die Ewigkeit auferstandenen Fleisch. Sie sind, ebenso wie Moses, wie die Propheten und die Gerechten, wie leider auch Kain und die Menschen der Sündflut, die Sodomiter und alle in der Todsünde Verstorbenen. Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.»

«Auch du wirst sterben und dann leben?» Sie versuchen Jesus. Sie sind es schon müde, sanft zu sein. Ihr Groll ist so heftig, dass sie sich nicht beherrschen können.

«Ich bin der Lebendige, und mein Fleisch wird die Verwesung nicht schauen. Die Bundeslade hat man uns genommen, und selbst das Symbol der jetzigen wird uns genommen werden. Das heilige Zelt wurde uns genommen und es wird zerstört werden. Doch der wahre Tempel Gottes kann nicht weggenommen und nicht zerstört werden. Wenn seine Gegner glauben, es geschafft zu haben, dann ist die Zeit gekommen, dass er im wahren Jerusalem in seiner ganzen Herrlichkeit errichtet wird. Lebt wohl.»

Jesus beeilt sich, zum Vorhof der Israeliten zu gelangen, denn die silbernen Trompeten rufen zum Abendopfer.

Jesus sagt mir:

«So wie ich dich angewiesen habe, den Satz „von meinem Kelch“ zu unterstreichen bei

der Vision, in der die Mutter des Johannes und des Jakobus um einen Platz für ihre Söhne bat, ebenso sollst du bei der Vision von gestern die Stelle unterstreichen: „Wer gegen diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden.“ In den Übersetzungen wird immer „auf“ gebraucht. Ich habe gesagt „gegen“, und nicht „auf“. Es ist eine Prophezeiung gegen die Feinde meiner Kirche. Alle, die sie anfeinden und sich auf sie stürzen, werden zerschmettert, denn sie ist der Eckstein. Die Geschichte der Welt bestätigt seit zweitausend Jahren meine Aussagen. Die Verfolger der Kirche werden zerschmettert, wenn sie sich auf den Eckstein stürzen.

Aber, und das sollen sich auch jene vor Augen halten, die glauben, vor dem göttlichen Strafgericht sicher zu sein, weil sie zur Kirche gehören: Der, auf den das Gewicht der Verurteilung durch das Haupt und den Bräutigam dieser meiner Braut, dieses meines mystischen Leibes fällt, wird zermalmt werden.

Um einem Einwand der immer vorhandenen Schriftgelehrten und Sadduzäer zuvorzukommen, die meinen Dienern schlecht gesinnt sind, sage ich: Wenn bei den letzten Visionen Sätze zu lesen sind, die nicht im Evangelium stehen, wie die am Ende der heutigen Vision und an der Stelle, wo ich vom verdorrten Feigenbaum gesprochen habe, und auch anderswo, so sollen sie sich daran erinnern, dass die Evangelisten aus diesem Volk stammten und in einer Zeit lebten, in der jeder zu große Schock starke und schädliche Auswirkungen auf die Neubekehrten haben konnte.

Sie sollen die Apostelgeschichte nachlesen und sie werden sehen, dass die Verschmelzung so vieler unterschiedlicher Gedanken nicht auf friedliche Weise vor sich gehen konnte; denn wenn sie sich auch gegenseitig bewunderten und einer des anderen Verdienste anerkannte, so fehlte es zwischen ihnen doch nicht an Meinungsverschiedenheiten; denn die Gedanken der Menschen sind verschieden und immer unvollkommen. Und um tiefgehende Brüche zwischen den verschiedenen Denkweisen zu vermeiden, unterließen es die vom Heiligen Geist erleuchteten Apostel bewusst, in ihren Schriften gewisse Dinge zu erwähnen, die die übermäßige Empfindlichkeit der Hebräer schockiert und den Heiden zum Ärgernis gereicht hätten. Denn diese mussten die Hebräer, den Kern der Kirche, noch für vollkommen halten, um sich nicht abzuwenden mit der Bemerkung: „Sie sind wie wir.“

Sie sollten von den Verfolgungen Christi erfahren, ja, aber nicht von den geistigen Krankheiten des Volkes Israel, dass besonders in den oberen Schichten verdorben war. Das wäre nicht gut gewesen, und so wurde so viel wie möglich davon verschleiert. Es ist zu beachten, dass die Evangelisten immer deutlicher werden, bis zum klaren Evangelium meines Johannes, je länger sie schreiben nach meiner Rückkehr zum Vater. Nur Johannes berichtet zur Gänze auch die schmerzlichsten Fehler selbst des Kerns der Apostel und nennt Judas offen einen Dieb. Nur er berichtet alles über die Niedertracht der Juden (ihren vergeblichen Willen, mich zum König zu machen, die Streitgespräche im Tempel, die Abwendung vieler von mir nach der Rede über das Brot vom Himmel, den Unglauben des Thomas). Als letzter Überlebender, der die Kirche schon erstarkt sah, lüftete er die Schleier, die die anderen nicht zu lüften gewagt hatten.

Aber nun will der Geist Gottes, dass auch diese Worte bekannt werden. Preisen wir den Herrn dafür, denn es sind viele Lichter und Anleitungen für die gerechten Herzen.»

DER DIENSTAG VOR DEM PASSAHFEST; DIE NACHT

«Ihr habt heute Heiden und Juden reden gehört. Ihr habt gesehen, wie die ersten sich vor mir verneigt und die zweiten mich fast verprügelt haben. Du, Petrus, hast beinahe die Hand erhoben, als du gesehen hast, dass man absichtlich Lämmer, Böcke und Kälber in meine Richtung gejagt hat, damit sie mich zu Boden in ihren Mist stoßen. Auch du, der sonst so

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kluge und vorsichtige Simon, hast den Mund geöffnet und die niederträchtigen Mitglieder des Synedriums beleidigt, die mich grob stießen und sagten: „Hebe dich hinweg, Dämon, die Gesandten Gottes gehen vorüber.“ Du, mein Vetter Judas, und du, Johannes, mein Lieblingsjünger, ihr habt geschrien, rasch eingegriffen und mich davor bewahrt, niedergefahren zu werden. Der eine hat das Pferd an den Zügeln gepackt, der andere hat sich vor mich gestellt, um den Stoß der auf mich gerichteten Deichsel abzufangen, als Sadok hohnlachend seinen schweren Wagen absichtlich und in voller Fahrt auf mich zulenkte. Ich danke euch für eure Liebe, die euch den Mut gibt, gegen die Angreifer des Wehrlosen aufzustehen. Aber ihr werdet noch ganz andere Beleidigungen und Grausamkeiten sehen. Wenn dieser Mond nach dem heutigen Abend zum zweiten Mal am Himmel lacht, dann werden die bisher nur mündlichen oder unbedeutenden tätlichen Angriffe massiv, und sie werden zunehmen wie die Blüten an den Obstbäumen, die in ihrem Eifer zu blühen immer noch dichter werden. Ihr habt einen verdorrten Feigenbaum und einen ganzen Obstgarten ohne Blüten gesehen und wundert euch darüber. Der Feigenbaum hat dem Menschensohn, wie Israel, Erquickung verweigert und ist in seiner Sünde gestorben. Der Obstgarten erwartet, wie die Heiden, die Stunde, von der ich heute gesprochen habe, um zu blühen und die letzte Erinnerung an die menschliche Grausamkeit auszulöschen durch die Zartheit der über das Haupt und unter die Füße des Siegers gestreuten Blüten.»

«Welche Stunde, Meister?» fragt Matthäus. «Du hast heute so viel und über so viele Dinge geredet. Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern. Ich möchte mich aber an alles erinnern. Vielleicht die Stunde der Rückkehr des Christus? Auch da hast du von Zweigen gesprochen, die saftig werden und Blätter treiben.»

«Aber nein!» ruft Thomas aus. «Der Meister spricht, als ob dieser Verrat, den er erwartet, nahe bevorstünde. Wie kann dann alles, was seiner Rückkehr vorausgehen soll, in so kurzer Zeit geschehen? Krieg, Zerstörungen, Sklaverei, Verfolgungen, in der ganzen Welt gepredigtes Evangelium, der Greuel der Verwüstung im Haus Gottes, und dann Erdbeben, Pest, falsche Propheten, Zeichen an Sonne und Sternen... Da braucht es doch Jahrhunderte, damit das alles geschehen kann. Der Besitzer der Apfelbäume müßte lange warten, um die Stunde der Blüte zu erleben.»

«Er würde seine Äpfel nicht mehr essen können, denn ich sage dir, es wird dann das Ende der Welt sein», bemerkt Bartholomäus.

«Um das Ende der Welt herbeizuführen, würde ein Gedanke Gottes genügen, und alles würde ins Nichts zurückkehren. Deshalb könnte dieser Obstgarten nicht lange warten müssen. Aber wie ich gesagt habe, wird es geschehen. Und daher werden Jahrhunderte zwischen dem einen und dem anderen vergehen, also bis zum endgültigen Sieg und der Rückkehr des Christus», erklärt Jesus.

«Also, zu welcher Stunde?»

«Oh, ich kenne sie, die Stunde!» weint Johannes. «Ich kenne sie. Es wird nach deinem Tod und nach deiner Auferstehung sein! ...» Johannes umarmt Jesus fest.

«Warum weinst du denn, wenn er doch wieder aufersteht?» spöttelt Judas Iskariot.

«Ich weine, weil er zuerst sterben muss. Verspotte mich nicht, Dämon. Ich verstehe. Und ich darf nicht an diese Stunde denken.»

«Meister, er hat mich Dämon genannt. Er hat gegen seinen Gefährten gefehlt.»

«Judas, bist du sicher, diesen Namen nicht zu verdienen? Wenn dem so ist, dann rechne es ihm nicht an. Auch mich hat man Dämon genannt, und ich werde noch öfters so genannt werden.»

«Aber du hast doch gesagt, wer den Bruder beleidigt, ist schul...»

«Ruhe. Im Angesicht des Todes hören diese häßlichen Anschuldigungen, Streitereien und Lügen endlich auf. Betrübt nicht den, der stirbt.»

«Verzeih mir, Jesus», flüstert Johannes. «Bei seinem Gelächter hat sich in mir etwas empört... und ich habe mich nicht beherrschen können.» Johannes hat Jesus eng umarmt, Brust an Brust, und weint an seinem Herzen.

«Weine nicht. Ich verstehe dich. Laß mich reden.»

Aber Johannes läßt Jesus nicht los, selbst dann nicht, als dieser sich auf eine hervorstehende Wurzel setzt. Einen Arm um seinen Rücken, den anderen um seine Brust gelegt, und den Kopf auf seiner Schulter, weint er lautlos. Im Mondschein glänzen nur die Tränen, die auf das purpurfarbene Gewand Jesu fallen und Rubinen, blassen, im Licht schimmernden Blutstropfen gleichen.

«Ihr habt heute Juden und Heiden sprechen gehört. Es darf euch also nicht wundern, wenn ich sage: „Aus meinem Mund ist immer das Wort der Gerechtigkeit gekommen. Und es wird nicht widerrufen werden“; ich sage mit Isaias, und spreche von den Heiden, die zu mir kommen werden, nachdem ich von der Erde erhöht worden bin: „Vor mir wird jedes Knie sich beugen, und jede Zunge wird bei mir schwören.“ Und wenn ihr gesehen habt, wie es den Juden ergeht, werdet ihr nicht mehr bezweifeln, dass man leicht und ohne Furcht vor einem Irrtum sagen kann, dass vor mir alle beschämt erscheinen werden, die sich mir widersetzen.

Mein Vater hat mich nicht nur zu seinem Diener gemacht, um die Stämme Jakobs zu neuem Leben zu führen, um zu bekehren, was von Israel übrig ist: die Reste; sondern er hat mich den Nationen als Licht geschenkt, auf dass ich der Erlöser der ganzen Welt sei. Daher habe ich in diesen dreiunddreißig Jahren des Exils vom Himmel und vom Schoß des Vaters beständig zugenommen an Gnade und Weisheit vor Gott und den Menschen. Ich habe das vollkommene Alter erreicht; und nachdem ich in diesen letzten drei Jahren meine Seele und meinen Geist im Feuer der Liebe zum Glühen gebracht und sie durch das Eis der Buße gehärtet habe, habe ich „meinen Mund zu einem scharfen Schwert“ gemacht.

Mein und euer heiliger Vater hat mich bis jetzt unter dem Schatten seiner Hand beschützt, denn noch war die Zeit der Sühne nicht gekommen. Nun läßt er mich gehen. Der auserwählte Pfeil, der Pfeil aus seinem göttlichen Köcher, der verwundet hat, um zu heilen, der die Menschen verwundet hat, um eine Bresche zu schlagen für das Wort und das Licht Gottes, findet nun rasch und sicher seinen Weg und verwundet die zweite Person, den Sühnenden, den anstelle des ganzen ungehorsamen Geschlechtes Adams Gehorsamen... Und wie ein getroffener Krieger werde ich fallen und für allzu viele sagen: „Vergebens und grundlos habe ich mich bemüht und nichts erreicht. Ich habe meine Kräfte für nichts verzehrt.“

Aber nein! Nein, bei dem ewigen Herrn, der niemals etwas ohne Zweck tut! Weiche, Satan, der du mich durch Mutlosigkeit beugen und zum Ungehorsam verleiten willst! Am Alpha meiner Mission bist du gekommen, und du kommst auch am Omega wieder. Nun, ich erhebe mich zum Kampf. (Und er steht tatsächlich auf.) Ich messe mich mit dir, und ich schwöre mir selbst: ich werde dich besiegen! Dies zu sagen ist nicht Hochmut. Es ist Wahrheit. Der Menschensohn wird in seinem Fleisch besiegt werden vom Menschen, dem armseligen Wurm, der aus seinem stinkenden Schmutz beißt und vergiftet. Aber der Sohn Gottes, die zweite Person der unaussprechlichen Dreiheit, wird nicht von Satan besiegt werden. Du bist der Haß. Und dein Haß und deine Versuchungen sind mächtig. Aber mir wird eine Kraft beistehen, die dich flieht, denn du kannst sie nicht erreichen und kannst sie nicht festhalten. Die Liebe ist mit mir!

Ich weiß um die niemandem bekannte Marter, die mich erwartet. Nicht die, von der ich morgen sprechen werde, damit ihr wißt, dass nichts von dem, was meinetwegen oder in meiner Umgebung getan und verhandelt wird, nichts, was in euren Herzen geschieht, mir unbekannt ist; ich meine eine andere Marter... Nicht die Marter des Menschensohnes durch Lanzen und Stöcke, durch Spott und Schläge, sondern die Marter, die von Gott selbst kommt und nur von wenigen erkannt werden wird in ihrer ganzen Grausamkeit, und die noch wenigere überhaupt für erträglich halten werden. Aber in dieser Marter, deren hauptsächliche Urheber zwei sein werden: Gott durch seine Abwesenheit, und du, Satan, durch deine Gegenwart, wird dem Opfer die Liebe beistehen. Die lebendige Liebe im Opfer selbst, als die größte Kraft seines Widerstandes in der Prüfung, und die Liebe im geistigen Tröster, der schon seine goldenen Flügel regt, voll Sehnsucht, herniederzusteigen und meinen Schweiß zu trocknen; der alle Tränen der Engel im himmlischen Kelch sammelt und sie mit dem Honig der Namen der von mir Erlösten und mich Liebenden versüßt, um mit diesem Getränk den großen Durst des Gemarterten und seine grenzenlose Bitterkeit zu mildern.

Du wirst besiegt sein, Dämon. Einmal, beim Verlassen eines Besessenen, hast du mir gesagt: „Ich warte nur darauf, dich zu besiegen, wenn du ein Klumpen blutendes Fleisch geworden bist.“ Aber ich antworte dir: „Du wirst mich nicht haben. Ich werde siegen. Meine Mühe war heilig, meine Sache wird von meinem Vater vertreten. Er verteidigt das Werk seines Sohnes und wird nicht erlauben, dass mein Geist von seinem Vorhaben abläßt.“

Vater, ich sage dir, schon jetzt sage ich dir für diese schreckliche Stunde: „In deine Hände empfehle ich meinen Geist.“

Johannes, verlaß mich nicht... Ihr könnt gehen. Der Friede des Herrn sei überall, wo Satan nicht Gast ist. Lebt wohl.»

Alles ist zu Ende.